Hessisch-Lichtenau
Im September 1944 richtete die SS unter Beteiligung der Dynamit Nobel AG sowie der IG Farben in Hessisch-Lichtenau ein Außenlager des KZ Buchenwald ein. Über 1.000 Frauen, hauptsächlich Jüdinnen aus Ungarn, wurden zur Zwangsarbeit herangezogen. Über 200 Frauen wurden später nach Auschwitz oder in andere KZs deportiert. Ende März 1945 wurde das Lager aufgelöst. Heute erinnern mehrere Gedenksteine und ein historischer Pfad durch Hessisch Lichtenau an das Geschehene.
Historische Situation
Bezeichnung
„Frauenaußenlager Verwertchemie Hessisch-Lichtenau/Kreis Witzenhausen“, „Lager Vereinshaus“
Standort
Das Lager „Vereinshaus“ befand sich an der Kreuzung der Adolf-Hitler-Straße (heute Desseler Straße) und der Heinrichstraße (heute Schulgelände der Grundschule bzw. Förderstufe der Gesamtschule Freiherr vom Stein), ca. 350 Meter Luftlinie entfernt von der Stadtkirche im Stadtmittelpunkt.
Unternehmen
Auftraggeber war die Gesellschaft zur Verwertung chemischer Erzeugnisse Hessisch Lichtenau mbH, die sich zu 100 Prozent im Besitz der Dynamit Nobel AG (als Bauherr) befand, verschachtelt mit der IG Farben des Flick-Konzerns.
Zwangsarbeit
Die Häftlinge mussten elf Stunden täglich Sprengstoffe herstellen und abfüllen. Einige Frauen wurden zudem für Erd- und Schachtarbeiten eingesetzt oder an Bauunternehmen weitervermietet.
Gegründet
2. August 1944
Aufgelöst
April 1945
Das Lager bestand als Frauen-Außenkommando Buchenwalds ab dem 2. August 1944. Davor befand sich vor Ort bereits ein Barackenlager für etwa 700 „angeworbene“ französische Fremdarbeiter.
Häftlinge
Frauenlager
Maximale Anzahl der Häftlinge
1.006
Es handelte sich um 1.006 meist ungarische Jüdinnen, die von der SS im KZ Auschwitz selektiert wurden. Zwei Monate nach Arbeitsbeginn deportierte die SS 206 Frauen, die als nicht mehr „arbeitsfähig“ oder krank eingestuft wurden, wieder zurück nach Auschwitz – darunter auch die gesunde Tochter einer Zwangsarbeiterin. Angeblich sollten sie dort „leichtere Arbeit in einer Kartonagenfabrik“ leisten, tatsächlich wurden sie vermutlich unmittelbar nach der Ankunft ermordet. Eine von der SS als „geistesgestört“ eingestufte sowie eine schwangere Frau wurden in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Zwei weitere Frauen wurden laut Augenzeugen nach vergeblichem Fluchtversuch im Lagergelände erschossen und verscharrt, ihre Namen sind nicht bekannt.
Am 29. März 1945 wurde das Außenlager aufgelöst und die Frauen zunächst per Bahn nach Leipzig verlegt, von wo aus sie zu Fuß weiter marschieren mussten. Am 25. April 1945 wurden sie in Wurzen durch die US-Armee befreit.
Unterbringung
Die Frauen waren in Holzbaracken untergebracht, die mit Stacheldraht vom Rest des Lagers abgetrennt waren. Teilweise mussten sich zwei Frauen eine Holzpritsche teilen. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal. Eine italienische Häftlingsärztin und zwei polnische Pflegerinnen kümmerten sich um die Kranken, waren mit den wenigen vorhandenen Medikamenten jedoch kaum in der Lage, wirksame medizinische Hilfe zu leisten.
„Orte und Räume Deutscher Verbrechen gegen die Menschheit“
Der Fotograf Herbert Naumann hat in den Jahren 2012 und 2013 die ehemaligen Standorte der Außenlager des KZ Buchenwald fotografiert. Die vordergründig dokumentarisch wirkende Fotografie zeigt Orte, die Schauplätze deutscher Verbrechen waren. Die fotografischen Ansichten von Landschaften, Brachen, Grünanlagen, öffentlichen Plätzen, Wohnsiedlungen, Kleingärten etc. liefern zunächst keine oder kaum noch Indizien für das, was hier geschehen ist. Es sind stille und unspektakuläre Bilder mit häufig nur indirekten Hinweisen. Erst der sie begleitende Text stellt den Zusammenhang zwischen den dort begangenen Verbrechen und dem Ort her, lässt in den Bildern die Spuren erkennen, gibt dem Ort seine Identität und nimmt ihm seine Harmlosigkeit. Mit den Fotografien erhalten die Geschehnisse eine neue Aktualität; sie bleiben nicht mehr nur als erzählte Geschichte(n) theoretisch, sondern werden wieder mit dem konkreten, dem erkennbaren, dem realen Ort verbunden.
Die weiteren Bilder von Herbert Naumann finden Sie unter www.herbert-naumann.de.
Heutige Situation
Nach Kriegsende wurden die staatsanwaltlichen Ermittlungen zu den Verbrechen nach Köln ausgelagert und jahrelang verschleppt. Die Behörden ermittelten nur schlampig, so wurde nach dem stellvertretenden Lagerleiter Zorbach, der im Lager „der Neue“ genannt wurde, unter dem Namen „Herr Neue“ ermittelt – freilich erfolglos. Der frühere Lagerleiter Willi Schäfer wanderte nach Südafrika aus, hielt aber verwandtschaftliche Kontakte aus der Stadt aufrecht. 1976 traf ihn die Überlebende der Shoah und des Außenlagers Hessisch-Lichtenau, Trude Levi. Doch die staatsanwaltlichen Ermittlungen wurden im selben Jahr eingestellt. Vor dem Gelände des ehemaligen „Lager Vereinshaus“ steht mittlerweile ein Gedenkstein. Ein weiterer Gedenkstein, samt einer Originallaterne aus der Lagerzeit mit eingelagerten Namen der Getöteten befindet sich in der Auffahrt nach Hirschhagen. Am „Wachhäuschen“, dem ehemaligen Eingang zum Werksgelände, hängt eine kleine Tafel der Stadt Hessisch Lichtenau mit statistischen Fakten. Seit Oktober 2011 ist zudem ein historischer Pfad durch das Gelände von Hirschhagen ausgewiesen, mit 18 Informationstafeln vor jeweils historisch interessanten Gebäuden. Erarbeitet wurde der Pfad von einem kommunalen Arbeitskreis der Städte Helsa und Hessisch Lichtenau, durch diese und mit EU-Mitteln und Spenden finanziert.
Kontakt zum Förderverein Buchenwald
Für Fragen, Hinweise oder Ergänzungen wenden Sie sich bitte an:
Förderverein Buchenwald
c/o Tourist-Information
Markt 10, 99423 Weimar
03643 747540
info@foerderverein-buchenwald.de
oder nutzen Sie unser Kontaktformular.
Literatur
Espelage, Gregor: „Friedland“ bei Hessisch Lichtenau. Geschichte einer Stadt und Sprengstoffabrik. 2 Bände, insb. Band II: Geschichte der Sprengstoffabrik Hessisch Lichtenau, Hessisch Lichtenau 1994.
Jessen, Jürgen / Geschichtswerkstatt Hessisch Lichtenau e.V. (Hrsg.): 700 Jahre Hessisch Lichtenau. Ein Ergänzungsheft zum Heimatbuch, Witzenhausen.
König, Wolfram / Schneider, Ulrich: Sprengstoff aus Hirschhagen. Vergangenheit und Gegenwart einer Munitionsfabrik, in: Gesamthochschule Kassel (Hrsg.): Nationalsozialismus in Nordhessen. Schriften zur regionalen Zeitgeschichte, Heft 8.
Pudler, Blanka / Vaupel, Dieter: Auf einem fremden, unbewohnbaren Planeten. Wie ein 15-jähriges Mädchen Auschwitz und Zwangsarbeit überlebte, Bonn 2019.
Seidel, Irmgard: Hessisch-Lichtenau, in: Benz, Wolfgang / Distel, Barbara: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 460ff.
Stadt Hessisch Lichtenau (Hrsg.): 700 Jahre Hessisch Lichtenau. 1289 – 1989. Beiträge zur Heimatkunde, Hessisch Lichtenau 1989 (enthält nur Informationen bis 1933 und ab 1945).
Vaupel, Dieter: Das Außenkommando Hess. Lichtenau des Konzentrationslagers Buchenwald 1944/45. Eine Dokumentation (Nationalsozialismus in Nordhessen 3, hrsg. von der Gesamthochschule Kassel), Kassel 1984.
Andere Quellen
Es existieren Berichte von "Ehemaligentreffen“ aus den Jahren 1986, 1987 und Sommer 1988 (Budapest) aufgrund von Einladungen seitens einer Bürgerinitiative, der späteren Geschichtswerkstatt Hessich Lichtenau e.V., an ehem. Mitarbeiter, deutsche dienstverpflichtete Frauen, deportierte Zwangsarbeiter und Überlebende der Shoah. Ein Eintrag der überlebenden jüdischen Lagerärztin aus Italien in das Goldene Buch der Stadt lautet: „Hessisch Lichtenau, früher ein Ort des Schreckens... ist heute ein kleiner ländlicher Ort in grüner Umgebung, voll von Freunden.“
Eindrücke und Motive überlebender ungarischer Besucherinnen über das damalige Geschehen und die Treffen mit heutigen Lichtenauer Einwohner:innen sind auch enthalten in zwei durch Mitglieder der Geschichtswerkstatt seinerzeit mit unterstützten Biographien:
Magyar Isaacson, Judith: Befreiung in Leipzig. Erinnerungen einer ungarischen Jüdin, aus dem Amerikanischen übersetzt von Werner Horch, Witzenhausen 1991.
Magyar Isaacson, Judith: Freut euch, ihr Lebenden, freut euch. Erinnerungen einer ungarischen Jüdin, hrsg. von Gerda Neu-Sokol, Berlin 2010.
Levi, Trude: Eine Katze namens Adolf. Aus dem Englischen übersetzt von Birgit Jessen, Witzenhausen 1977.
Mark, Elke: Kanarienvogel. Ein Buch und Film (2 DVDs, Bezug direkt über post@elkemark.com).